
Faszination Flöte
Die Flöte und der Atem stehen in einem ganz besonderen Verhältnis zueinander. Im Gegensatz zu allen anderen Instrumenten, bei denen ein Zwischenmedium (Rohrblatt, Saite, Metallzungen, Lippen im Mundstückkessel, Filzhämmerchen, Fell, Stimmbänder) die Hauptrolle bei der Klangerzeugung spielt, wird bei der Flöte der Atem ganz direkt und unmittelbar in Klang umgewandelt. Der Ton entsteht ausschließlich durch Schwingungen der Luftsäule und macht die Flöte zu einem besonders ‘gewaltfreien’ und sensiblen Instrument. Hinzu kommt eine hohe Variabilität beeinflussbarer physikalischer Faktoren, derer sich Flötistinnen und Flötisten bedienen dürfen. So können sie durch Veränderung des Blasdruckes, der Weite des Lippenspaltes, der Höhe des Lippenspaltes, des Schneideabstandes und des Anblaswinkels unmittelbaren Einfluss auf die Klangbildung während des fließenden Spiels nehmen. In diesem Zusammenhang spielen die Mundwinkel, die Kiefernzange, die Zungenlage, sowie die Tongebung positiv beeinflussende Vokalvorstellungen eine wichtige Rolle. Bei offenem Rohr, dem Mundloch auf der einen und dem offenen Fußende auf der anderen Seite, schweben Flötistinnen und Flötisten nahezu in der Luft und können sich nicht auf feststehende akustische Verhältnisse verlassen, so wie dies beispielsweise bei Streichinstrumentalisten der Fall ist. Ist ein Streichinstrument gut gestimmt, dann sind Spannung und Tonhöhe der leeren Saiten physikalisch festgelegt. Diese große Variabilität physikalischer Faktoren beim Querflötenspiel bedeutet jedoch nicht nur eine zwangsläufig höhere Labilität der Klangerzeugung, sondern vielmehr eine große Freiheit und einen enormen Zuwachs an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten hinsichtlich Tonvolumen, Klangfarbe und Dynamik. Auf ganz faszinierende Art und Weise offenbaren Flötistinnen und Flötisten ihr Wesen, wodurch die Flöte zu einem ganz besonders individuellen Instrument wird.
Als zeitgeschichtlich ältestes Instrument hat die Flöte in allen Hochkulturen stets eine ganz besondere Rolle gespielt: Sie war Sinnträger für “Leben”. Neben physischen Komponenten übernahm die Atmung insbesondere beim Flötenspiel gleichsam psychisch eine führende Rolle, da die Flöte die besondere Qualität des Atems eben am unmittelbarsten nutzt. Die Ansicht, dass der Atem der Träger der Seele sei, bestand immer und überall, wobei der Flöte hier ein besonders starker Symbolcharakter zukam. So wurde die Flöte zum Beispiel zur Aufnahme inniger Verbindung und Kommunikation mit Verstorbenen eingesetzt. Sehr stark zum Ausdruck kommt der Symbolcharakter der Flöte ebenfalls im Kantaten-Schaffen Johann Sebastian Bachs. Man denke hier an die Flötenarie aus der Kantate “Schmücke dich, oh liebe Seele” oder an die Flötenarie aus der Kantate “Ich bin in mir vergnügt”. In einer Vielzahl an Arien tritt die Flöte als Symbol für den Heiland, den Erretter der Seele auf, so beispielsweise in der Arie aus der Matthäuspassion “Aus Liebe will mein Heiland sterben”.
Die Identifikation von “Atem” mit “Leben” und “Seele” und der sich daraus ergebende Symbolcharakter der Flöte hat Jahrhunderte, gar Jahrtausende überdauert, trotz der Weiterentwicklungen im Flötenbau, der schließlich revolutionären Erfindung des Mehrklappensystems durch Theobald Böhm im Jahre 1832 und der damit erweiterten spieltechnischen Möglichkeiten des modernen Orchesterinstrumentes Flöte. So wie schon bei den alten Griechen die Seele nicht im Herzen, sondern im Zwerchfell saß, so schlägt sich auch bei modernen Flötisten der Seelenzustand auf das Zwerchfell. Angst und Depression wirken ebenso unmittelbar auf den Atem wie Selbstbewusstsein, Freude und Entspannung. Ob unser Flötenspiel stimmt hängt von unserer Stimmung ab. In gewissem Maße können wir jedoch unsere Stimmungen unter Kontrolle halten, in dem wir unseren Atem beherrschen.
